Auf der Schulbank

Die Berliner Compagnie zeigt den zweiten Teil ihrer Rosa-Luxemburg-Tetralogie: „Frieden!“

Von Leonard Haverkamp

Vor lauter Übermut, ihren aus polnischer Gefangenschaft geflohenen Geliebten Leo (im Stück heißt er Leon) Jogiches wiederzusehen, setzt sich Rosa Luxemburg gleich auf seinen Schoß. Sie will jetzt so richtig mit ihm zusammen sein, „wie Mann und Frau“. Leon bekräftigt seine Liebe zu Rosa, sieht aber keine Zukunft: „Du musst dich entscheiden: Willst du Mutter sein oder Revolutionärin?“. „Beides“, entgegnet Luxemburg trotzig. Jogiches weiß, dass es dazu nicht kommen wird: „Du wirst Ideen in die Welt setzen“.

Die Berliner Compagnie umreißt in ihrer vierteiligen Lecture Performance „Aber nicht küssen ist auch kontraproduktiv“ das Leben und Schaffen der bedeutendsten Vertreterin der Arbeiter*innenbewegung. Im Rahmen des PAF 2023 zeigen sie den zweiten Teil „Frieden!“. Es geht um die Jahre zwischen 1906 und 1914. Rosa Luxemburg streitet mit SPD- und Gewerkschaftsführern. Prangert Imperialismus und Kolonialismus als Folge von Kapitalismus an. Warnt vor dem drohenden Weltkrieg und versucht ihn mit einem Generalstreik zu verhindern. Nebenbei bringt sie Friedrich Ebert (später erster Reichspräsident der Weimarer Republik) und Wilhelm Pieck (einziger jemals amtierender Präsident der DDR) das marxistische Einmaleins bei. Und lässt Leo Jogisches für einen jüngeren Revoluzzer sitzen.

Frech, ironisch und vor allem selbstbewusst interpretiert Ana Hauck die Revolutionärin. Mit leuchtenden Augen, Strohhut und einem leichten Akzent, welcher der im von Russland kontrollierten Kongresspolen geborenen Luxemburg gut steht. Ebenso überzeugend ist ihr Gegenüber H. G. Fries, Stimme aus dem Geschichtsbuch und alle Personen in Rosas Umfeld: mal ihre Freundin Clara Zetkin, mal ein SPD-Silberrücken, mal ein französischer Arbeiter*innenführer. Dabei schafft Fries es sogar, in verschiedenen Dialekten und Akzenten nicht albern zu klingen. Gemeinsam springen die beiden von Dialogen zwischen Freund*innen und Geliebten zu politischen Auseinandersetzungen, und verwässern so die Trennung zwischen Politischem und Privatem. Von Text und Spiel lenkt nicht viel ab: Eine dreistufige karge Bühne und ein Rednerpult, das zusätzlich den Charakter eines Lehrer*innenzimmers unterstreicht, bilden die Kulisse.

Die Zuschauenden erleben das Leben Rosa Luxemburgs als eine humoristische Geschichtsstunde. In ihrer Biografie lassen sich hundert Jahre später einige Parallelen in unserer heutigen Zeit finden: Der russische Angriff auf die Ukraine bedeutet ein wiederkehrender Imperialismus in Europa. Die unter Sozialdemokrat*innen 1914 hitzig geführte Debatte um die Bewilligung von Kriegskrediten findet ihre Entsprechung in dem gerade in linken Kreisen vielfach kritisierten Sondervermögen für die Bundeswehr. Auch die Gefahr eines drohenden Weltkriegs wird ja gelegentlich diskutiert (im Text zum Stück ist beispielsweise von einem heraufziehenden dritten Weltkrieg die Rede). Und nicht zuletzt die Arbeitskämpfe der letzten Monate hierzulande haben gezeigt, dass die Konfliktlinien zwischen institutionellem, gewerkschaftlichem Kampf und einer radikaleren Mobilisierung der Arbeitenden mit dem Ruf nach Generalstreiks wie in Frankreich fortbestehen.

Während Hauck als Luxemburg ihren Parteischüler*innen die Zusammenhänge zwischen kapitalistischem Gewinnstreben, Imperialismus und Weltkrieg erklärt, hat sich Fries ins Publikum geschlichen. Hier antwortet sie abwechselnd mit der Stimme eines etwas einfältigen Friedrich Ebert und der eines umso beflisseneren Wilhelm Pieck. Die Zusehenden drücken jetzt die Schulbank mit zwei Sozialdemokraten, die später zentrale Persönlichkeiten der deutschen Geschichte werden sollen.

Ihr Problem: Außerhalb des Theaters müssen sie ohne eine Aktivistin vom Format Rosa Luxemburgs auskommen. Die Texte der Revolutionärin bleiben zwar bis heute relevant und es hat lange gedauert, bis sie in Deutschland Anerkennung fanden. Mit den Schlüssen für das Hier und Jetzt bleibt man beim Verlassen des Theaters aber auf sich allein gestellt. Das Stück versprüht dann doch mehr Nostalgie um die rote Rosa als revolutionären Geist.