Die feministische Performance „HALT“ zeigt, wie Solidarität und Empowerment auch innerhalb marginalisierter Communities aussehen kann. Sie bietet denjenigen einen Zugang ins Theater, die auf den klassischen Bühnen eher nicht angesprochen werden. Ein Gespräch mit Regisseur:in Thu Hoài Tran über Tokenism im deutschen Theater, linke Identitätspolitik und das Nacktmachen auf der Bühne.

Von Dilara Buzoglu

Hoài, ihr bringt Aktivismus auf die Bühne. Warum gerade Theater?

Ich glaube, weil ich schon seit Jahren im Theaterbereich aktiv bin und ich die Strukturen des Theaters als Institution bereits kennengelernt habe. Es ist also die Kulturinstitution, der ich am nächsten stehe. Deshalb haben wir gedacht: Warum nicht mit dem Theater anfangen?

In einem anderen Projekt von dir, das Institut für Affirmative Sabotage, gibt es ein Manifest, indem du dich gemeinsam mit deiner Kolleg:in Miriam Yosef u. a. gegen Tokenism aussprichst. Wieso ist Tokenism denn überhaupt ein Problem in der deutschsprachigen Theaterlandschaft?

Wo soll ich anfangen? Das Theater ist ja immer noch mehrheitlich weiß und die Machtpositionen mehrheitlich mit weißen Cis-Männern besetzt. Genauso wie die meisten Ensembles. Was wir in den letzten Jahren in der Theaterlandschaft beobachten können, sowohl in der Freien Szene als auch – oder vor allem – in Staats- bzw. Stadttheaterstrukturen: Diversität ist als Thema sehr trendy geworden. Natürlich liegt da jetzt auch ein gewisser Druck auf den Häusern selbst, diverser zu werden. In einer für sie angenehmen Umsetzung bedeutet das für die Häuser, vielleicht ein, zwei Menschen of Color einzuladen. Zum Beispiel als Gast-Schauspieler:innen, die dann bestimmte Rollen spielen müssen, die voller Stereotype und sehr verletzend sind. Wenn wir irgendwo eingeladen werden, zum Beispiel auf Panels, ist da immer die Gefahr, dass unser Projekt als Diversitäts-Projekt tokenisiert und nur als Aushängeschild benutzt wird, damit die Theater dann sagen können: Wir sind doch divers – was wollt ihr noch von uns?

Was kann das Theater denn für mehr Inklusivität tun, ohne Tokenism zu betreiben?

Theater brauchen strukturelle Veränderungen, und zwar im Personal, im Programm und im Publikum. Sie müssen sich ernsthaft mit den bestehenden diskriminierenden Strukturen und künstlerischen Praktiken auseinandersetzen. Im Personal müssen sie sich die Fragen stellen: Wer sitzt an den entscheidenden Machtpositionen? Welche Personen sind an den einzelnen Produktionen beteiligt? Wenn wir uns zum Beispiel die Intendanzen in Deutschland anschauen, sind die wenigsten Frauen oder Frauen of Color, Schwarze oder jüdische Menschen. Dann im Programm: Zu jeder Spielzeit sollte man sich fragen, welche Stücke werden gespielt, von wem? Warum muss der eurozentrische Kanon immer wieder reproduziert werden?

Und wie ist es mit dem Publikum?

Es geht um die Frage, wer mit den Stücken angesprochen wird. Theater richtet sich immer noch an ein weißes bürgerliches Publikum. Es muss sich aber die Frage stellen, warum bestimmte Menschen bislang vom Theater systematisch ferngehalten werden. Da greift das Argument nicht, dass zum Beispiel migrantisierte Jugendliche kein Interesse an das Theater hätten. Denn dahinter liegen Strukturen, die es erschweren, dass marginalisierte Menschen am Theater teilhaben können. Wir wollen ein Theater, das inklusiv ist und viele Perspektiven und Lebensrealitäten mitbedenkt. Klar, ich sehe schon, dass sich was ändert. Nur reicht es noch nicht.

Welches Publikum wollt ihr denn mit eurem Stück erreichen?

Wir wollten ein Stück machen, das sich nicht vorrangig an ein weißes Publikum richtet, sondern vor allem an die Community. Also an Communities, die Rassismus- und Sexismuserfahrungen machen und Menschen, die bislang nicht wirklich vom Theater angesprochen wurden. Uns ging es vor allem um den Prozess, statt am Ende einfach das Ergebnis als Theaterstück zu zeigen. Wir haben Räume geschaffen, in denen wir uns gegenseitig stärken, über schmerzhafte Themen verhandeln und uns selber ermächtigen können.

Sind auch nicht-Betroffene von Rassismus eingeladen, sich die Performance anzuschauen?

Genau.

Auf dem diesjährigen PAF zeigt ihr nur eine Aufzeichnung eures Stücks. War das eigentlich anders geplant?

Ja, die Produktion wurde unerwartet zu einem Pandemie-Baby. Bis zur letzten Minute haben wir darauf hingearbeitet, dass „HALT“ live performt wird, was aber durch die Lockdowns nie zustande kam. Die Premiere war im Juni 2020 geplant und wurde mehrmals verschoben. Irgendwann haben wir gedacht, dass wir nicht noch einmal eine Premiere verschieben können – die Ressourcen waren sehr begrenzt –, weshalb wir dann gesagt haben: Hey, lasst uns die Performance in eine digitale Form bringen! Ich hab mich ehrlich gesagt lange davor gedrückt, weil ich keine Erfahrung im Film habe und ich Aufzeichnungen von Theaterstücken einfach super langweilig finde. Wir haben uns dann aber Leute herangeholt, die sich damit auskennen und das Beste daraus gemacht. Am Ende war ich doch sehr überrascht: Auch als Film ist „HALT“ sehr schön geworden.

Als nicht-weiße und/oder migrantisierte Person ist es anstrengend, dass man ständig und überall erstmal seine Biografie und Familiengeschichte auspacken muss. Das thematisiert ihr auch in eurer Performance. Wieso habt ihr euch dann dazu entschieden ein Stück zu machen, in dem hauptsächlich die negativen Seiten des marginalisierten Seins auf die Bühne gebracht werden?

Wir haben damit angefangen Biografie-Arbeit zu machen, um uns selbst kennenzulernen und herauszufinden, was wir eigentlich wollen. Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir eigentlich keinen Bock haben, uns wieder nackt zu machen auf der Bühne. Einerseits ist es wichtig, dass Lebensrealitäten gezeigt werden. Andererseits: Wieso müssen sich andere, weiße Performer:innen nicht nackt machen? Wir haben nach spielerischen Formen gesucht, um mit diesem Dilemma umzugehen. Eines der Formen war eine Performance zu machen, die sich zwischen Realität und Fiktion bewegt. Wir haben gedacht, wieso nehmen wir nicht einfach Lügen als eine bewusste Form, sich selbst zu ermächtigen? Wir haben daran Freude gefunden, uns darin auszutoben und zu provozieren. Aber nichtsdestotrotz ist da auch viel Realität in dem Stück. Zum Beispiel ist rechter Terror ein großes Thema.

Von Kritiker:innen der linken Identitätspolitik hört man ja immer wieder, die ganzen Labels und Selbstbezeichnungen würden nur für mehr Spaltung sorgen. Warum braucht es sie trotzdem?

Identitätspolitiken sind ja da, um ungleiche Machtverhältnisse sichtbar zu machen. Wo Menschen zusammenkommen können, die die gleichen Erfahrungen, wie zum Beispiel Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus, teilen und dann gemeinsam daraus Forderungen stellen können. Wo nicht über uns gesprochen wird, sondern wir aus einer betroffenen Perspektive diese Forderungen stellen – damit sich gesellschaftliche Strukturen verändern. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass Identitätspolitiken Menschen homogenisieren und essentialisieren. Selbst in einer Gruppe, in der alle Rassismus-Erfahrungen machen, unterscheiden sich diese Erfahrungen. Da spielt dann Intersektionalität wieder eine Rolle.

Im Untertitel bezeichnet ihr „HALT“ als feministische Performance über intersektionale Solidarität. Was heißt intersektionale Solidarität für dich?

Intersektionale Solidarität bedeutet für mich, füreinander einzustehen. Es ging in der Performance weniger darum, wie weiße Menschen Verbündete sein können. Vielmehr wollten wir thematisieren, wie Solidarität auch innerhalb der Communities stattfinden kann – das ist vor allem ein Lernprozess. Auch innerhalb der Communities können ungleiche Machtverhältnisse bestehen, unterschiedliche Privilegien. Solidarität meint für mich, diese auch zu praktizieren, sich mit seinen eigenen Privilegien auseinanderzusetzen und auch Verbündete für andere Menschen innerhalb der marginalisierten Communities zu sein. Meine Freiheit ist an die Freiheit der anderen gebunden. Mein Kampf ist der Kampf der anderen. Solange eine Person noch unfrei ist, ist niemand frei. Daraus resultiert für mich unsere gesellschaftliche Verantwortung.